Das Dilemma der russischen Männer – die Teilmobilmachung in Russland erschüttert die Gesellschaft

Veröffentlicht am 4. Oktober 2022 um 15:22

Einen Tag nach der Verkündung der Teilmobilmachung wurden bereits Reservisten für den Krieg in der Ukraine eingezogen. In vielen Familien löst das Panik aus – aber der Widerstand ist vorläufig gering.Die Aufnahmen sind beklemmend-bitter und stammen aus der ostsibirischen Teilrepublik Sacha (Jakutien). Emotionale Frauen, Kinder und ältere Männer verabschieden ihre männlichen Angehörigen auf dem Gelände der Einberufungsbehörde. Mit Bussen werden diese weggefahren – zur Ausbildung, zur Ausstattung, in den Krieg.

Seit Dienstagabend, als die Gerüchte über eine kurz bevorstehende Mobilmachung der russischen Armee sich verdichteten, herrscht in sehr vielen russischen Familien Panik über die Aussicht, der Ehemann, Vater, Sohn oder Bruder könnte früher oder später eingezogen werden. Schon einen Tag nach Präsident Wladimir Putins Anordnung zur Teilmobilisierung scheint klar: Vielerorts verteilen die regionalen Militärbehörden die Stellungsbefehle sehr grosszügig, ja willkürlich.

Breite Auslegung der Einberufungskriterien

Verteidigungsminister Sergei Schoigu hatte am Mittwoch zwar die Zahl von vorerst 300 000 Einzuberufenden und die Kriterien genannt, anhand deren diese ausgewählt werden. Diese haben anscheinend wenig zu bedeuten. Im Einberufungserlass aus der Region Samara an der Wolga geht hervor, dass alle Militärdienstpflichtigen grundsätzlich eingezogen werden können und besonderen Auflagen unterstehen: etwa dem Verbot, ihre Stadt oder ihren Bezirk zu verlassen.

Aus der ostsibirischen Region Burjatien am Baikalsee stammen ohnehin schon überdurchschnittlich viele Vertragssoldaten, die in der Ukraine im Einsatz sind. Jetzt heisst es, es würden auch Männer, die nie Militärdienst geleistet hätten, Ältere und Väter mit vielen Kindern eingezogen, mitunter ein Grossteil der männlichen Dorfbewohner.

Das Onlineportal Nowaja Gaseta Europe will in Erfahrung gebracht haben, dass sich hinter dem geheimen siebten Punkt von Präsident Putins Erlass über die Teilmobilisierung die Zahl von einer Million Einzuberufenden verbirgt. Der Kremlsprecher Dmitri Peskow wies das zurück. Unrealistisch ist es nicht, dass die Anordnung eine weit höhere Obergrenze vorsieht, als Schoigu sie vorgetragen hatte. Militärexperten stellen aber die Realisierung der Ziele infrage. Und selbst wenn 300 000 Personen teilweise unter Zwang eingezogen werden, werden diese erst mit Verzögerung und mit fraglicher Ausrüstung einsatzbereit sein.

Politisch ist die Mobilisierung für das Regime eine Gratwanderung. Eine Mehrheit der Bevölkerung hatte den Krieg bis vor wenigen Tagen mit Gleichgültigkeit oder allenfalls achselzuckender Zustimmung verdrängt. Der politische Kommentator Andrei Kolesnikow konstatiert deshalb einen Bruch des putinschen Gesellschaftsvertrags, den er so beschreibt: «Wir, die Bürger, erlauben euch, den Herrschenden, zu stehlen und Krieg zu führen, aber im Gegenzug lasst ihr unser Privatleben in Ruhe.» Die bewusst demobilisierte Bevölkerung muss jetzt für einen ihr fernen Waffengang und für den Dienst an einem Staat, dessen Institutionen von vielen verachtet werden, mobilisiert werden. Noch im Frühjahr hatte Putin das explizit ausgeschlossen.

Ohnmacht und Fatalismus

Die Verzweiflung ist in vielen Familien gross. Die Ausreisen haben dramatisch zugenommen. Aus finanziellen, aber oft auch familiären Gründen kann es sich nicht jeder leisten, zu emigrieren. Zum Aufstand sind die wenigsten bereit. So bleibt die Wahl zwischen Krieg oder Gefängnis. Für manche ist Ersteres auch dann realistischer, wenn sie Russlands Aggression gegen die Ukraine nicht gutheissen und im Grunde nicht bereit sind, für den russischen Staat den höchsten Preis zu bezahlen.

Der Journalist Iwan Schilin schildert das in einem beklemmenden Text in der «Nowaja Gaseta» am eigenen Beispiel. Von emigrierten Kollegen wurde er für seine ihm als unterwürfig ausgelegte Haltung kritisiert. Aber sie spiegelt ganz gut das Dilemma vieler russischer Männer und zugleich die Ohnmacht und den Fatalismus, der auch in anderen Lebenslagen verbreitet ist.

Der propagandistische Trick Putins, die Mobilisierung mit der Bedrohung der russischen Souveränität durch den «kollektiven Westen» zu begründen, dürfte aber nicht wenige von der Notwendigkeit überzeugen, in den Kampf zu ziehen. Die Propagandistin Margarita Simonjan bekundete, es freue sie nicht, dass die Teilmobilisierung ausgerufen worden sei. Aber das Verhalten der Nato, die zum eigentlichen Gegner in der Ukraine geworden sei, mache das notwendig. Der ultrakonservative Duma-Abgeordnete Witali Milonow lobte in einer Fernseh-Talkshow den Krieg gar als eine Chance für den Mann, seine Männlichkeit zu zeigen.

Protestierende erhalten Stellungsbefehl

Erstaunlich viel Mut zeigten am Mittwochabend einige tausend Personen, die in mehreren Dutzend Städten Russlands gegen den Krieg und gegen die Teilmobilisierung auf die Strasse gingen. In Moskau zogen sie unter anderem durch die Fussgängerzone am Arbat und skandierten «Kein Krieg!» und «Putin, geh selbst in den Schützengraben!». Solche Versammlungen und Umzüge werden jeweils von den Sicherheitskräften sofort brutal unterbunden, und so war es auch jetzt. Mehr als tausend Festnahmen wurden verzeichnet.

Den Festgenommenen drohen Ordnungsbussen, Arreststrafen und bei Wiederholung strafrechtliche Konsequenzen. Männern, die von der Polizei abgeführt wurden, überreichten die Polizisten in zahlreichen Polizeiposten Stellungsbefehle – unabhängig von der persönlichen Situation der Betroffenen. Die Teilmobilisierung ist ein weiterer, noch viel drastischerer Beleg dafür, dass das Regime den Krieg gegen die Ukraine auch als Krieg gegen das eigene Volk führt.

Manche westliche Beobachter und russische Oppositionelle im Exil beurteilten den Protest vom Mittwoch als moralisches Versagen: Als hätte es all die russischen Verbrechen in der Ukraine nicht gegeben, fassten die Russen erst dann den Mut zum Widerstand, wenn es ans eigene Leben gehe. Das verkennt die schiere Unmöglichkeit zum grossen Protest und die Ausweglosigkeit, in der sich die Hiergebliebenen befinden.

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