Putin verlängert den Krieg, aber wendet nicht das Blatt

Veröffentlicht am 2. Oktober 2022 um 18:16

Wladimir Putin macht die befürchtete Teilmobilmachung wahr. Doch das Vorgehen wirft Fragen auf, sowohl für die betroffenen Russen als auch für die Armeen beider Seiten. Dass 300.000 Reservisten die russische Armee schnell und spürbar stärken, ist zu bezweifeln.

Nachdem in den russisch kontrollierten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk sowie in den teils von den russischen Streitkräften besetzten ukrainischen Bezirken Cherson und Saporischschja Referenden über einen Beitritt zu Russland angesetzt wurden, sollte Russlands Präsident Wladimir Putin noch am Dienstagabend eine Ansprache halten. Doch statt wie von Kreml-nahen Journalisten verbreitet um 20 Uhr Moskauer Zeit, wurde Putins Rede erst 13 Stunden später ausgestrahlt, am Mittwochmorgen. Der Verzögerung zum Trotz wurde genau das zur Realität, was viele befürchtet hatten: Putin, der in seiner üblichen Tonalität von einer Konfrontation mit der "gesamten Militärmaschine des kollektiven Westens" sprach, verkündete eine Teilmobilmachung.

In einem etwas später ausgestrahlten Interview mit dem russischen Staatsfernsehen betonte sein Vertrauter, der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, die Mobilmachung beschränke sich vorerst auf 300.000 Reservisten - allerdings auch nicht alle gleichzeitig, sondern schrittweise. "Nur die Bürger, die sich derzeit in der Reserve befinden und über bestimmte militärische Berufe und einschlägige Erfahrungen verfügen, werden einberufen", versicherte Putin selbst in seiner Ansprache, und beteuerte, dass alle Eingezogenen eine zusätzliche militärische Ausbildung durchlaufen würden.

Ein geheimer Artikel

Ob all das tatsächlich so kommen wird, ist fraglich. Denn der entsprechende Erlass Putins ist sehr vage formuliert und gibt dem Verteidigungsministerium bei der Umsetzung viele Freiheiten. "Das wird folgendermaßen ablaufen: Das Verteidigungsministerium wird Mobilisierungsquoten für die Regionen bestimmen. Gouverneure werden für die Erfüllung dieser Quoten verantwortlich sein", schreibt der auf Menschenrechtsthemen spezialisierte russische Jurist Pawel Tschikow. Zuerst würden Männer einberufen, die in der Armee gedient und danach einen Reservistenvertrag unterschrieben haben. Danach folgten die einfachen Reservisten.

Die Zahl von 300.000 ist juristisch gesehen irrelevant. Wie viele Mobilisierte betroffen sind, wird laut Kremlsprecher Dmitri Peskow in Artikel 7 von Putins Erlass behandelt - doch dieser Artikel unterliegt der Geheimhaltung. Warum dieser Teil des Erlasses verheimlicht wird, während Schoigu öffentlich über 300.000 Reservisten spricht, ist unklar. Das Verteidigungsministerium unterliegt mutmaßlich keinen Beschränkungen, um diese Zahl zu erhöhen. Rechtlich gibt es wohl auch nicht einmal Hürden, um Männer ohne Militärerfahrung einzuberufen.

Außerdem könnte dem Mobilisierungsgesetz zufolge die Bewegungsfreiheit der Männer eingeschränkt werden, die für eine Einberufung in Frage kommen. Nach Einschätzung des Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für Verteidigung, Andrej Karaulow, ist es aber noch nicht so weit. Putins Sprecher Peskow betonte, dass die Details zur möglichen Grenzschließung für Männer zu einem späteren Zeitpunkt publik werden sollen.

Eine Frage der Moral

Doch was bedeuten die Ereignisse der letzten Tage generell? Klar ist vor allem eines: Putin will die derzeit besetzten ukrainischen Gebiete schnellstmöglich nach dem Ende der orchestrierten Referenden dem eigenen Reich zuschlagen. Es sieht danach aus, als diene die Verkündung der Teilmobilmachung nach der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte vor allem der Verteidigung dieser Gebiete. Vorher gehörte die zahlenmäßige Unterlegenheit der russischen Streitkräfte zu den wichtigsten Problemen Russlands in seinem Angriffskrieg. Theoretisch dürfte sich die Ausgangslage für die Russen durch die Teilmobilisierung absehbar verbessern.

Praktisch steht Russland aber vor einer Vielzahl an Problemen: Der Großteil des für den Krieg relevanten russischen Heeres kämpft bereits in der Ukraine. Die Kampfqualität und die Moral der neuen Reservekräfte wird voraussichtlich deutlich niedriger liegen als die der jetzt eingesetzten Truppen. Nicht zuletzt wegen der mutmaßlich fehlenden Moral der Einberufenen hat das russische Parlament am Dienstag im Eilverfahren die Gesetzgebung zur Kriegsdienstverweigerung verschärft. Probleme könnte es zudem sowohl mit der fehlenden Ausbildungsinfrastruktur als auch mit Offizieren für die neuen Verbände geben. Auch die technische Ausstattung der neuen Soldaten ist fraglich.

Kernziel: Donbass

Vor allem wird es aber mindestens eineinhalb bis zwei Monate dauern, bis die ersten Eingezogenen wirklich an die Front geschickt werden. Der gesamte Mobilmachungsprozess wird noch viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. In der Zwischenzeit wird die Ukraine sicher versuchen, die bisher zum großen Teil erfolgreichen Offensiven in den Bezirken Cherson und Luhansk auszuweiten. Ferner reichen die angekündigten 300.000 russischen Soldaten nicht aus, um einen großen Angriff an der gesamten Frontlinie zu starten. Vielmehr werden sich die Russen darauf konzentrieren, dass sich eine Situation wie im Bezirk Charkiw nicht wiederholt und dass die Armee zumindest das politische Ziel der Besatzung des gesamten Donbass erfüllt.

Momentan aber sind die russischen Streitkräfte weit davon entfernt, den Oblast Donezk komplett einzunehmen. Letztlich stellt die Teilmobilmachung die russische Armee also nicht unbedingt in eine viel günstigere Position, wird aber den Krieg vermutlich deutlich verlängern und für noch mehr Tote auf beiden Seiten sorgen. Spannend dürfte werden, wie Russland auf die ukrainische Gegenoffensive in den besetzten Gebiet reagiert, nachdem Moskau diese formell annektiert hat, denn zumindest aus Sicht des Kreml sind sie dann russisches Staatsgebiet. Es ist aber davon auszugehen, dass Putins jüngste Atomdrohungen eher ein Signal an den Westen galten als an die Ukraine.

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