Teilmobilisierung könnte Rohrkrepierer werden

Veröffentlicht am 25. September 2022 um 13:12

Die vom Kreml ausgerufene Teilmobilisierung soll 300.000 zusätzliche Soldaten für den Angriffskrieg gegen die Ukraine bereitstellen. Experten sind skeptisch, ob Russland dazu in der Lage ist, und vieles deutet darauf hin, dass die Aktion für Putin zum gefährlichen Rohrkrepierer werden könnte.

Statt die allgemeine Mobilisierung auszurufen, ordnet Putin nur eine Teilmobilisierung an. Trotzdem sollen durch den Schritt bis zu 300.000 zusätzliche Soldaten für den Angriffskrieg gegen die Ukraine bereitgestellt werden, um eine drohende Niederlage abzuwehren. Die Zahl wirkt auf den ersten Blick bedrohlich hoch, doch realistisch ist sie kaum.

Experten sind skeptisch, dass das Militär auch nur annähernd in der Lage ist, so viele Männer auszurüsten und für den Fronteinsatz fit zu machen. Der Schuss könnte für Putin sogar im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgehen, vermuten sie. Denn zu einem "echten Krieg" seien die Russen eigentlich gar nicht bereit - schon gar nicht, wenn er schlecht laufe.

Der Wurm steckt im System

Die russische Armee sei eigentlich schon vor der Invasion eine teilmobilisierte Truppe gewesen, erklären Michael Kofman und Rob Lee in einem Beitrag für "War on the Rocks". Nach dem Ende der Sowjetunion seien die russischen Streitkräfte in mehreren Stufen verschlankt worden, um zu einer Armee zu werden, die zwar weiter Wehrpflichtige habe, sich aber vor allem auf Vertragssoldaten stütze. Ähnlich wie im Westen war sie nicht mehr auf eine große Konfrontation, sondern auf die schnelle Lösung von Konflikten ausgelegt.

2013 seien die Streitkräfte wieder vergrößert worden, um zu einem größer angelegten Krieg fähig zu sein. Die teilmobilisierte Struktur sei aber grundsätzlich beibehalten worden, so Kofman und Lee. Da eine höhere Bereitschaft zur kurzfristigen Einsatzfähigkeit hinsichtlich Ausrüstung und Personal gefordert wurde, hätten die noch rund 250.000 Wehrpflichtigen dabei nicht ins Konzept gepasst.

Russische Armee nicht für "echten Krieg" geeignet

Als Folge habe die russische Armee aus unterbesetzten Einheiten bestanden. "Die Hardware war da, aber die Leute waren es nicht", schreiben die beiden Autoren. Das russische Militär sei gut geeignet für kurze, hochintensive Feldzüge mit einem starken Einsatz von Artillerie, aber nur schlecht für eine anhaltende Besetzung oder einen Zermürbungskrieg, wie es aktuell in der Ukraine der Fall sei.

"Das russische Militär hat nicht die Zahlen verfügbar, um Streitkräfte einfach anzupassen oder zu rotieren, wenn in einem Krieg eine erhebliche Menge an Kampfkraft gebunden wird", schreiben Kofman und Lee. Man sei davon ausgegangen, "dass im Falle einer Krise mit der NATO die politische Führung die Mobilisierung genehmigen würde, um die Besatzungsstärke zu erhöhen und personell aufgestockte Formationen einzusetzen."

Unterbesetzte, dezimierte Bataillone

Um mit den vorhandenen Vertragssoldaten auszukommen, seien auch alle in die Ukraine geschickten Bataillone unterbesetzt gewesen, schreiben Kofman und Lee. Ohne Hilfskräfte und andere unterstützende Elemente habe die Gesamtgröße der Invasionsarmee ursprünglich nur rund 80.000 Mann betragen.

Laut "The Wall Street Journal" bezifferte das Pentagon die russischen Verluste bereits Anfang August auf etwa 80.000 Gefallene und Verwundete, das ukrainische Verteidigungsministerium zählt aktuell rund 55.000 tote russische Soldaten. Selbst wenn es "nur" 30.000 oder 40.000 sein sollten, ergibt sich damit eine gewaltige Personallücke.

 

Der ukrainische Präsident Selenskyj schätzte die Länge der aktuell umkämpften Frontlinie Ende August auf 1300 Kilometer. Ohne Aufstockung können sie Putins Truppen nicht ausreichend absichern. Was das bedeutet, sieht man am erfolgreichen ukrainischen Vorstoß in der Region Charkiw im Nordosten und weiteren russischen Niederlagen in den vergangenen Wochen. Beobachter sehen unter anderem die ausgedünnten und isolierten russischen Truppen im Süden in und um Cherson kurz vor dem Kollaps.

Begrenzte Kriegsbereitschaft der Bevölkerung

Eine generelle Mobilisierung wollte Putin möglicherweise nicht riskieren, um es sich nicht mit der Bevölkerung zu verscherzen. Denn deren Begeisterung für die "Militäroperation" scheint begrenzt zu sein. Ukraine-Korrespondentin Natalija Wassiljewa schreibt auf Twitter von einem Pakt, den der Präsident bereits mit der Teilmobilisierung gebrochen habe: "Ihr könnt normal weiterleben, während wir uns um die internationale Bühne kümmern."

Indem der Kreml auf die generelle Mobilisierung verzichtet, werden zumindest keine jungen Wehrpflichtigen eingezogen, was mehr oder weniger ein Tabubruch gewesen wäre. Shoigu beteuerte im russischen Fernsehen, sie würden nicht mobilisiert und nicht in die "Zone der besonderen Militäroperation" geschickt. Aber die Verträge der Zeitsoldaten, die normalerweise nach drei bis sechs Monate nach Hause können, werden auf unbestimmte Zeit verlängert. Außerdem werden Reservisten eingezogen, die laut Shoigu gedient haben sowie militärische Spezialkenntnisse und Kampferfahrung haben.

Flüge aus Russland heraus ausgebucht

Wie groß die Sorge vieler Russen ist, jetzt selbst (wieder) kämpfen zu müssen, sieht man an der Tatsache, dass laut "Ukrajinska Prawda" bereits kurz nach Putins Rede sämtliche Direktflüge nach Istanbul, Eriwan und Tiflis für die nahe Zukunft ausverkauft waren. BBC-Korrespondent Will Vernon lag also offenbar mit seiner Annahme richtig, dass nach der Nachricht von der Teilmobilmachung "viele Russen, insbesondere junge Berufstätige, erwägen werden, das Land so schnell wie möglich zu verlassen."

 

 

 

Die Stimmung eines Teils der Bevölkerung ist auch durch Kommentare in Internetforen zu erahnen, der Berliner Osteuropa-Experte Sergey Sumlenny hat einige davon getwittert: "Ich fühle mich verzweifelt, mein Sohn wurde gerade entlassen. Was passiert jetzt mit ihm? Er ist alles, was ich habe." "Ich weine. Wir hätten Russland Anfang dieses Jahres entkommen können, aber ich hatte Einwände. Mein Mann kann jetzt mobilisiert werden. Warum?!" "Ich weine, meine Hände zittern. Niemand hat das geglaubt. Was tun?!"

Gefährliche Situation für Putin

Ob Aufrufe zum Protest, wie von der Antikriegsbewegung "Vesna", Massen auf russische Straßen bringen werden, bleibt abzuwarten. Der Historiker und Militärexperte Trient Telenko rechnet damit, dass Putins Stuhl bereits wackelt und im Falle einer - wahrscheinlichen - Niederlage in der Ukraine Russland in einen Bürgerkrieg versinken könnte.

Insofern wäre Putin vermutlich sogar zur Generalmobilisierung bereit gewesen, um für ihn das Schlimmste zu verhindern. Sie hätte ihm aber wahrscheinlich ebenso wenig zu einem Erfolg geführt wie die jetzige Teillösung. Denn wie etliche Experten anführen, war die russische Armee nicht mal in der Lage, ihre relativ kleine Invasionsarmee logistisch vernünftig zu versorgen. Wie soll das jetzt mit noch mehr Soldaten sowie verlorenen Nachschublinien und zerstörtem Militärgerät gelingen?

Tote Offiziere nicht zu ersetzen

Außerdem wäre Russland gar nicht in der Lage, unerfahrene Männer für den Krieg auszubilden. Es gäbe dafür weder Schulen noch Ausbilder, die dazu in der Lage wären, schreibt der tartarische Historiker und Journalist Kamil Galejew auf Twitter. Viele Offiziere, die sie trainieren könnten, sind in der Ukraine und oft schon tot. Inoffiziellen Quellen zufolge sind in der Ukraine seit dem 24. Februar bereits rund 12.000 russische Offiziere gefallen. Kadereinheiten, aus denen neue Offiziere hervorgehen könnten, gäbe es ebenfalls nicht mehr, so Galejew.

Falls Russland doch eine nennenswerte Zahl von neuen Soldaten mobilisieren kann, werden sie schlecht ausgerüstet in die Schlacht geschickt werden: Putins Armee verfügt zwar immer noch über eine Unmenge von altem militärischen Material, aber das hat sich gegenüber den westlichen Waffen der Ukraine als völlig unterlegen erwiesen. Aber "neue Soldaten, die jetzt einberufen werden, führen ja nicht dazu, dass modernes Gerät automatisch verfügbar ist", sagte Militärexperte Thomas Wiegold ntv.

Mehr Soldaten nicht unbedingt besser

Die bisherige militärische Leistung Russlands deute auch nicht darauf hin, dass der Einsatz von mehr Soldaten bessere Ergebnisse für Moskau bringen würde", schreiben Liana Fix und Michael Kimmage in "Foreign Affairs". Darüber hinaus würde die Ausbildung von Soldaten Zeit in Anspruch nehmen.

Kamil Galejew sieht auch ein logistisches Problem, das Putin Position zusätzlich schwächen könnte. Da Russland extrem zentralisiert sei und praktisch alle Transportwege durch Moskau führten, würden dort zwangsläufig auch viele der neu mobilisierten Truppen durchkommen, schreibt er. Da sich die jungen Männer bewusst seien, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit getötet oder verstümmelt werden, sind sie demoralisiert, was die Bevölkerung mitbekommen werde. Eine ähnliche Situation habe 1917 zum Sturz des Zarenreichs beigetragen.

Putins Zeit läuft ab

Auch der Historiker Timothy Snyder sieht Putins Zeit ablaufen. Putins Rede zeige, dass Russland verliere, twitterte er. Er habe nie eine Mobilisierung anordnen wollen, habe sie aber aus Angst vor seinen faschistischen Rivalen ausgerufen, vor denen er sich mehr als vor der Bevölkerung fürchte.

Ob Russland schnell genug ausreichend neue Truppen an die Front schicken kann, um die Ukrainer noch entscheidend auszubremsen, bezweifeln viele Experten. "Selbst wenn der Kreml alle verfügbaren Hebel in Bewegung setzt und eine Generalmobilmachung ausruft, um ausreichend gepanzerte Ausrüstung und ausgebildetes Personal abzurufen, würde dieser Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen", schrieb Dara Massicot in "Foreign Affaires". Die russischen Streitkräfte werden daher in den nächsten ein oder zwei Jahren wahrscheinlich mit sehr erheblichen Ressourcenengpässen konfrontiert sein."

Der Artikel stammt von Mitte August, also noch vor der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukrainer im Nordosten. Jetzt ist die Situation der Invasoren noch deutlich dramatischer, eine Niederlage Russlands wahrscheinlicher. Die Teilmobilmachung ändert daran voraussichtlich wenig. Im Gegenteil: Sie könnte Putin mittelfristig sogar schwächen, wenn er keinen Erfolg hat und nicht mehr überwiegend ethnische Minderheiten oder Söldner in der Ukraine für ihn sterben.

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