Gestern noch Enkel, heute schon Feind – wie russische Familien sich wegen der Ukraine zerstreiten

Veröffentlicht am 21. April 2022 um 13:13

Der Krieg in der Ukraine sorgt für lauten Streit in den Familien quer durch Russland. Frauen reden nicht mehr mit ihren Männern, Grossväter verstossen ihre Enkel. Zurück bleiben Wut, Enttäuschung und Einsamkeit.

In Russland sind von den Staatsmedien abweichende Äusserungen über den Ukraine-Krieg unter Strafe gestellt.

Plötzlich war dieses Wort im Raum. «Verräter!» Michail hatte sich in diesen Tagen bereits vieles von seiner Mutter und seinem Grossvater anhören müssen. Russland zwingt die Menschen, den Krieg gegen die Ukraine «militärische Spezialoperation» zu nennen. Michail aber sagt «Krieg». Er tut es beharrlich und nimmt immer wieder Streit mit seiner Familie in Kauf.

 

 

 

Ein «Bandera-Anhänger» sei er, ein «ukrainischer Nationalist», ja, ein «Faschist», werfen ihm seine Mutter und sein Grossvater vor. «Ihr seid doch selbst Faschisten», schreit Michail eines Abends vor zwei Wochen zurück – und geht. Seitdem herrscht Stille zwischen ihm und seinen Nächsten. Eine Stille, die der 19-Jährige gut findet. Und doch leidet er so sehr an ihr. Den Geburtstag seines Grossvaters lässt er sausen, zum ersten Mal in seinem Leben.

Seitdem russische Panzer am 24. Februar die Grenze zur Ukraine passiert haben, geht ein Riss durch viele russische Familien. Vor allem zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Städtern und Menschen auf dem Land, zwischen denen, die im Ausland gelebt haben oder leben, und denen, die immer in Russland geblieben sind, eskaliert der Streit. Selbst zwischen Eheleuten kracht es, weil die Ansichten zu dem, was Russland in der Ukraine macht, so weit auseinandergehen, dass nur noch Wut bleibt. Oder die vollkommene Wortlosigkeit.

Beklemmendes Schweigen

«Das Schweigen herrscht nicht nur zu Hause. Es herrscht auch auf der Strasse, im Bus, an der Uni. Man weiss nie, was das Gegenüber denkt, wie es sich positioniert. Ich sage selbst vor Bekannten nichts mehr», erzählt Michail. Seinen Nachnamen will der Student aus Jekaterinburg, mehr als 1000 Kilometer östlich von Moskau gelegen, nicht nennen. Er spricht leise, macht oft Pausen. «Es ist einsam geworden um mich herum», sagt der 19-Jährige, der einst in den Staatsdienst wollte, weil er darin eine Möglichkeit sah, städtebaulich etwas in seinem Ort zu verändern.

Bereits als Schüler hatte er angefangen, sich in seiner Kleinstadt unweit von Jekaterinburg zu engagieren. Er hatte neue Schaukeln in den Höfen gebaut, sich für den Erhalt historischer Laternen eingesetzt, eine Grünanlage mitgestaltet. Schliesslich fing er an, Bauwesen zu studieren. «Unsere Wirtschaftsdozentin erzählt uns nun allen Ernstes, wie gut Sanktionen für Russland seien. Mir wird übel dabei. Ständig laufe ich aus dem Unterricht raus, sie macht sich lustig darüber, meint, ich hätte einen schwachen Magen. Wenn sie nur wüsste, was ich ihr alles ins Gesicht schreien will. Aber ich bleibe still.»

Es herrschen beklemmende Zeiten im Land. Bis zu 15 Jahre Haft droht der Staat all jenen an, die Fakten und Meinungen verbreiten, die von der offiziellen Darstellung abweichen. Durch solche «Fakes» will der Kreml seine Armee nicht «diskreditiert» wissen. Was erlaubt ist und was nicht, ist nicht eindeutig klar. Das verstärkt die Unberechenbarkeit.

Die staatliche Propaganda tut zudem alles dafür, die Menschen über das, was in der Ukraine geschieht, in die Irre zu führen. Sie hat es äusserst leicht, weil die Methode der Verwirrung und der Unsicherheit seit Jahren das wichtigste Mittel der Nachrichtengestaltung in den staatsnahen Medien ist. Sie macht es den Menschen einfach, weil viele es sich auch leichtmachen wollen, um sich nicht eingestehen zu müssen, ein Teil des Monströsen zu sein, das ihr Land – auch in ihrem Namen – einem anderen Land antut.

Sie wiederholen die Sätze aus dem Staatsfernsehen, halten sich an sie in den Gesprächen mit Freunden, Verwandten, Bekannten. Russland sei gezwungen gewesen, die Menschen in der Ukraine zu «befreien», es habe keine Wahl gehabt. Die Zivilbevölkerung leide nicht, sagen sie, als würden sie gerade übers Kartoffelsetzen auf ihrer Datscha erzählen. Die Ukraine sei kein echtes Land, die Ukrainer seien das Böse schlechthin.

Das entspricht genau dem, was sie rund um die Uhr in den staatsnahen Medien sehen, hören, lesen. Wer es hinterfragt, kann hinter Stacheldraht landen. Der Staat setzt auf Einschüchterung. Das Ausblenden ist ein Teil des Alltags in Russland, gemischt mit einer tiefsitzenden Antipathie gegen alles Amerikanische samt gleichzeitiger Bewunderung westlicher Produkte. Die Menschen verspüren Angst. Sie haben Sorge, ihren Job zu verlieren, den sozialen Halt, ja die Freiheit.

Selbst Russen, welche die Augen nicht verschliessen, gehen in der Masse der Schweigenden unter. Oder sie wählen das Exil. So wie Maria Semerenko aus Koroljow bei Moskau. «Ich will nicht schweigen. Aber wenn man redet im heutigen Russland, lebt man gefährlich. Über kurz oder lang landet man in der Strafkolonie. Das will ich nicht», sagt sie am Telefon aus Baku. Anfang März war sie Hals über Kopf nach Aserbaidschan geflogen, drei Monate kann sie vorerst bleiben. «Was danach ist? Keine Ahnung.»

«Eure Nachrichten, unsere Nachrichten»

Im Jahr 2011 war die heute 36-Jährige zum ersten Mal an einer regierungskritischen Demonstration, vor der Verfassungsänderung vor zwei Jahren hatte sie vor ihrem Haus ein Graffito gemalt. «Putin ist ein Dieb», hatte sie geschrieben. Am nächsten Morgen war es überstrichen. Nach dem Kriegsbeginn unterstützte sie die Aufrufe zu Antikriegsprotesten in den sozialen Netzwerken.

Plötzlich häuften sich die Anrufe der Polizei. Semerenko, die Stoff-Design studiert hat, bekam Angst – und packte die Koffer. Ihre Eltern glauben, erzählt sie, dass sie westlichen Lügen aufgegessen sei. «Egal, was ich ihnen sage, zeige oder vorlege über all das, was russische Truppen in der Ukraine veranstalten, sie wischen es beiseite und sagen: ‹Du hast deine Nachrichten, wir haben unsere. Und unseren vertrauen wir.› Dass ihre ‹Nachrichten› reinste Propaganda sind, hinterfragen sie keine Sekunde lang.»

Ähnliches berichtet auch Artjom Medwedew: «Nachrichten aus unabhängigen Medien wollen meine Verwandten genauso wenig lesen wie ich die Nachrichten aus Staatsmedien.»

Eigentlich kommt der 36-jährige Kleinunternehmer aus Ischewsk, der Stadt, in der die Kalaschnikow-Gewehre hergestellt werden. Bereits nach der Annexion der Krim vor acht Jahren suchte er bewusst nach Stellen im Ausland – und fand eine in Florida. Seit 2020 lebt er nach jahrelangem Pendeln fest in den USA. Ende Januar sind auch seine Frau und sein achtjähriger Sohn zu ihm gezogen. «Meine Intuition hat mich nicht verlassen, sie haben es noch rechtzeitig rausgeschafft aus Russland.»

Artjom Medwedew hatte einst Putin bewundert, war in die Regierungspartei Einiges Russland eingetreten. Es sei, berichtet er, seine Suche nach Netzwerken gewesen, sein sozialer Lift. Mit 18 Jahren hatte er angefangen, Zuckerwatte-Maschinen zu verkaufen. «Ohne Verbindungen kommt man in Russland nicht weit.»

Medwedew kam weit in seiner Stadt. Er hatte mehrere Wohnungen, einige kleinere Unternehmen, keine Geldsorgen. Nur die innere Ruhe habe gefehlt, sagt er. Vor allem seit er anfing, den Blog von Alexei Nawalny zu lesen. «Eine Offenbarung.»

Das Hinterfragen begann – und mündete in der Emigration. «Jetzt höre ich fast jeden Tag Unfassbares von meiner Familie und meinen Freunden in Russland. Mein bester Freund sagt: ‹Die Ukrainer sind selbst schuld.› Meine Oma meint: ‹Artjom, du darfst nicht schlecht über Russland reden.› Mein Onkel und meine Tante halten die Taten der russischen Truppen in Mariupol, in Butscha, in Kramatorsk für eine Fälschung. Sie sagen: ‹Die Ukraine ist wie ein kleiner Bruder, der sich schlecht benommen hat, und Russland haut ihn, wie grosse Brüder das nun mal tun. Danach wird der Kleine dem Grossen dankbar sein.› Es sind Dinge, die nicht auszuhalten sind.»

Selbst mit der eigenen Frau seien die Gespräche schwierig. «Sie gehört zu denen, die meinen, dass jede Seite lügt, wie es ihr gerade passe.»

Medwedew versucht bei all den Anrufen nach Ischewsk ruhig zu bleiben. Er nennt das «die Sokrates-Methode». «Ich stelle Fragen, immer wieder Fragen. Das ist meine Art, sie mit ihrer Verblendung zu konfrontieren. Wie lange wollen sie sich und anderen denn noch erzählen, dass sie all den Dreck um sie herum so hinnehmen?»

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