Es wird Zeit, dass die Menschlichkeit erwacht

Veröffentlicht am 24. März 2022 um 20:04

Hilfe für Menschen in der Not kostet Geld – und das fehlt immer öfter. Auch das Budget des deutschen Entwicklungsministeriums soll um 800 Millionen Euro schrumpfen. EU-Kommissar Lenarčič ist fassungslos.

 

Es sah lange gut aus: Die weltweite Armut sank in den vergangenen Jahrzehnten, der Hunger schien weitgehend besiegt, einige bewaffnete Konflikte konnten endlich befriedet werden. Doch jetzt ist der Hunger vor allem in Afrika zurück, der Klimawandel macht ganze Landstriche unbewohnbar. Und mitten in Europa tobt plötzlich ein irrsinniger Krieg.

Janez Lenarčič ist als EU-Kommissar für das globale Krisenmanagement der Europäischen Union zuständig, er plant humanitäre Einsätze und wirbt das Geld dafür ein. Laut Lenarčič ist der Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit so hoch wie nie. Gleichzeitig brechen immer mehr Geldgeber weg. Ab Montag hat die EU zum Humanitären Forum in Brüssel geladen, um diese Fragen zu besprechen.

Ein Interview mit einem Krisenmanager, der zunehmend verzweifelt.

Janez Lenarčič, geboren 1967, ist seit 2019 EU-Kommissar für Krisenmanagement und damit zuständig für die Koordination der humanitären Hilfe der Europäischen Union. Zuvor hatte er zahlreiche Positionen innerhalb der slowenischen Regierung inne, unter anderem als Staatssekretär für Europa und Auswärtige Angelegenheiten und als slowenischer Botschafter bei der EU.

 

DER SPIEGEL: Herr Lenarčič, lässt sich die humanitäre Katastrophe in der Ukraine in Worte fassen?

Lenarčič: Es ist das größte humanitäre Desaster seit dem Zweiten Weltkrieg, zumindest in Europa. Mehr als eine Million Flüchtlinge kommen momentan in die EU – pro Woche. Das ist einfach unfassbar. Eine Tragödie apokalyptischen Ausmaßes. Die Uno geht davon aus, dass bereits mehr als zwölf Millionen Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe benötigen, und die Zahl steigt täglich. Dazu kommen all die unschuldigen Zivilisten, die verwundet oder getötet werden.

 

 

SPIEGEL: Wie kann die EU auf diese humanitäre Katastrophe reagieren? Die belagerten Städte zum Beispiel können doch gar nicht versorgt werden, oder?

Lenarčič: Wir haben unsere humanitäre Hilfe für die Ukraine verdreifacht. Aber es stimmt, eines der Hauptprobleme ist der Zugang zu den Menschen in Not. Der ist vielerorts nicht möglich, vor allem wegen des Verhaltens der russischen Invasoren, denen internationale Normen schlichtweg egal sind. Unsere Partner arbeiten hart daran, mit beiden Seiten zu verhandeln, um den sicheren Zugang zu Menschen in Not zu gewährleisten. Auch Kriege haben Regeln – und die werden von der russischen Armee massiv verletzt

 

SPIEGEL: Ist der Bedarf an humanitärer Hilfe für die Ukraine überhaupt zu beziffern?

Lenarčič: Die Uno hat vor einigen Wochen einen ersten Finanzierungsaufruf gestartet, der bestand aus zwei Teilen: 1,1 Milliarden US-Dollar für die Ukraine selbst und 600 Millionen US-Dollar für Programme, die den Geflüchteten in den Nachbarländern der Ukraine zugutekommen sollen. Diese Summen sind bereits voll finanziert, das sollte laut Uno drei Monate lang reichen. Aber angesichts der ständig wachsenden humanitären Probleme müssen wir wahrscheinlich sehr bald drauflegen.

SPIEGEL: Gleichzeitig gibt es weltweit so viele humanitäre Krisen wie nie zuvor. Der Krieg im Jemen dauert an, dazu kommen Afghanistan und Syrien, am Horn von Afrika wütet eine schreckliche Dürre. Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Welt aus immer mehr Wunden blutet und Ihnen die Pflaster ausgehen?

 

»In solchen Zeiten sollten die Budgets für humanitäre Hilfe steigen.«

 

Lenarčič: Ja, genau so fühle ich mich oft. Der humanitäre Bedarf ist weltweit explodiert, gleichzeitig wird die Finanzierungslücke immer größer. Wir erleben zahlreiche gewaltsame Konflikte, in Afrika sind zudem die Folgen der Klimakrise spürbar. Auch die Coronapandemie hat enorme Auswirkungen gehabt. Der Krieg in der Ukraine kommt nun zu all diesen Problemen noch hinzu. Schon vor diesem Krieg sind die Lebensmittel- und Benzinpreise gestiegen, das wird jetzt noch viel schlimmer. Die Ukraine als Kornkammer der Welt fällt aus und das gefährdet die Nahrungsmittelversorgung vieler Menschen.

SPIEGEL: Wird jetzt für die Nothilfe in der Ukraine Geld abgezweigt, das eigentlich für andere humanitäre Krisen vorgesehen war? Die Hilfsbudgets sind ja nicht endlos.

 

 

Lenarčič: Ich bestehe darauf, dass das nicht passieren sollte. Ich verstehe ja, dass die Haushalte der Geberländer strapaziert sind, auch wegen der gestiegenen Preise und der wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Aggression. Aber in solchen Zeiten sollten die Budgets für humanitäre Hilfe steigen, alles andere würden keinen Sinn ergeben – und wäre zutiefst unverantwortlich und unsolidarisch.

 

War dieser Artikel hilfreich?

Bewertung: 0 Sterne
0 Stimmen

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.

Erstelle deine eigene Website mit Webador