Kinderpsychiater über Mord an Luise: „Bei Kindern ist das Rachemotiv präsenter“

Veröffentlicht am 15. März 2023 um 18:18

Im nordrhein-westfälischen Freudenberg wurde die 12-jährige Luise von zwei Mädchen getötet. Im Interview erklärt Helmut Remschmidt, warum Kinder morden.Herr Remschmidt, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie tödliche Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen erklären. In Freudenberg wurde eine 12-Jährige von einem 12- und einem 13-jährigen Mädchen umgebracht. Wie kommen Kinder dazu, zu töten?

So genau lässt sich das nicht sagen. Da kommen viele Aspekte zusammen. Der biografische Hintergrund kann Aufschlüsse geben, also ob die Täterinnen in diesem Fall selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, zum Beispiel in der Familie. Es ist nicht selten, dass Gewalttäter selbst Opfer waren. 

Dann ist die Täter-Opfer-Beziehung und die Motivlage wichtig: Ich nehme an, dass sie sich gekannt haben. Es wäre kaum vorstellbar, dass sie mit einem Messer auf die Straße gehen und auf ein x-beliebiges Mädchen einstechen. Da muss es eine Vorgeschichte geben. Und diese muss man genau eruieren.    

Sie waren lange als Kinder- und Jugendpsychiater tätig – worauf kommt es bei der Begutachtung der Täterinnen jetzt an?

Ich würde die beiden Mädchen sehr genau untersuchen, körperlich und psychiatrisch. Wie ist ihre Intelligenz? Was war ihre Motivlage? Was haben Sie bei der Tat gedacht? Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, würde ich weitergehende neurologische Untersuchungen durchführen. Natürlich muss man auch mit den Eltern sprechen. Das ist in so einem Fall sehr schwierig, da die Eltern sowohl des Opfers als auch der Täterinnen natürlich geschockt sein werden und sich vielleicht auch Vorwürfe machen. Als Nächstes muss man sich die Waffe angucken. Jungen benutzen eher Klapp- oder Springmesser. Dass jemand in die Küche geht und ein Messer mitnimmt, gibt es auch, aber es ist viel seltener.

In Freudenberg handelt es sich um zwei Täterinnen.

Solche Taten kommen bei Mädchen deutlich seltener vor. Jungen haben ein höheres Gewaltpotenzial. Laut der Kriminalstatistik ist das Verhältnis bei Gewalttaten, es muss nicht unbedingt Mord und Totschlag sein, von Jungen zu Mädchen neun zu eins.

Haben Kinder ein moralisches Empfinden?

Der Mensch kommt nicht mit moralischem Bewusstsein auf die Welt. Er muss es erst lernen. Kinder durchlaufen eine moralische Entwicklung. Sie wachsen in die Gesellschaft und in die Maßstäbe dieser. Da ist es auch wichtig, wie im Elternhaus und der Schule diese Maßstäbe vermittelt werden.

 

Bei Kindern ist das Rachemotiv präsenter: jemanden einen Denkzettel zu verpassen, der mich beleidigt oder gedemütigt hat.

Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt über die Motive von gewalttätigen Kindern.

Können Kinder mit 12 oder 13 Jahren die Tragweite ihrer Taten ganz ermessen?

Sicher können sie ermessen, dass wenn sie auf jemanden einstechen, dass der tot sein kann. Aber man muss sich fragen, ob sie die ganzen Hintergründe und die Tragweite, was das für sie und alle anderen bedeutet, abschätzen können. Das gilt es zu klären.

Haben Kinder bereits eine Hemmschwelle, wenn es um Gewalttaten geht?

Die gibt es schon im Jugendalter. Das zeigt auch die Statistik. In allen Altersgruppen unter dem 14. Lebensjahr gibt es weniger tätliche Auseinandersetzungen. Wenn es um Tod geht, ist die Hemmschwelle bei vielen sicher schon sehr früh ausgeprägt. Letztendlich können sie den Effekt ihrer Handlungen nicht richtig abschätzen. Also, dass sich aus einer tätlichen Auseinandersetzung eine Tötung ergibt, die nicht beabsichtigt war. Es gibt auch Fälle, bei denen die Tötung geplant ist. Ich weiß nicht, wie es in diesem Fall ist, aber eine Planung bei unter 14-Jährigen ist extrem selten.

Ähneln die Motive von Kindern denen von Erwachsenen?

Da gibt es definitiv Unterschiede. Bei Erwachsenen ist Bereicherung ein Motiv, da geht es um Einbruch und Raubüberfälle. Das spielt bei Kindern keine Rolle, da denken die nicht dran. Auch Beziehungstaten sind unter Erwachsenen häufiger. Bei Kindern ist das Rachemotiv präsenter: jemanden einen Denkzettel zu verpassen, der mich beleidigt oder gedemütigt hat. Da bleibt nur die Frage, führt es so weit, dass man jemanden umbringt? Da muss schon einiges hinzukommen.

Gibt es noch weitere Motive?

Eine weitere Rolle spielen Vorbilder. Führen die Kinder eine Handlung durch, die sie in irgendeiner Form mal gesehen haben? Das sind Taten, die nach einem Vorbild begangen werden. Und was extrem selten ist, aber trotzdem vorkommt: Junge Täter wollen wissen, wie es ist, wenn jemand stirbt.

Gibt es unter kindlichen Tätern bestimmte Parallelen?

Es gibt die sogenannten Delinquenz-Karrieren oder Kriminalitäts-Karrieren. Und da gibt es eine Gewaltspirale, die beginnt mit dem Diebstahl, dann kommt der Einbruch, dann Raub, dann der Überfall auf Menschen. Und zum Schluss steht oft die Gewalttat, die Tötungsdelikte, Mord oder Totschlag. Das ist eine kriminelle Karriere, die früh beginnt.

Gilt das auch für Taten aus dem Affekt heraus?

Das ist ein anderer Typ. Solche Affekttaten entstehen immer aus einer riesigen Spannung zwischen Täter und Opfer. Am Endpunkt steht ein schweres Delikt. Der Täter war vorher völlig unauffällig, er hat keine Straftaten begangen und auch nach dem Tötungsdelikt nicht mehr. Das sind Dinge, die aus einer Situation heraus entstehen, nach einer langen Eskalation zwischen Täter und Opfer. So was kann auch im Kindesalter passieren. In meinem Buch schreibe ich auch über so einen Fall. Ein Junge bringt seinen Vater um, von dem er jahrelang gedemütigt und geschlagen wurde. Irgendwann kommt es zu einer Auseinandersetzung, die zwar nicht unbedingt intendiert, aber zum Tod des Vaters führt.

Junge Menschen töten eher aus Situationen heraus. Bei dem Fall in Freudenberg waren zwei Täterinnen beteiligt – ändert das etwas?

Da kommen wir zum Thema Gruppendynamik – sie waren zwar nur zu zweit, aber auch das ist schon eine kleine Gruppe. Solche Delikte zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen die Tat entweder miteinander vereinbart haben oder dass sie der Meinung sind, sie müssen jeweils beteiligt sein. Bei mehreren Tätern entsteht ein Gruppendruck, das kann auch schon bei zweien passieren.

Bei Gruppendelikten kommt es häufiger zu Todesfällen. Woran liegt das?

Mehrere Täter können sich gegenseitig motivieren oder ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen. Es gibt Gruppen, die sich bestimmte Regeln geben – vor allem unter Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Person ist dann der Anführer, der bestimmt, was oder wie etwas gemacht wird. Die anderen folgen. In solchen Gruppen werden dann auch professionell Straftaten begangen.

Strafrechtlich wird nicht gegen die beiden Mädchen vorgegangen. Wie muss der Umgang mit den Täterinnen aussehen?

Nach der Aufklärung der Tat und den psychologischen Untersuchungen muss eine therapeutische Intervention stattfinden. Hier stellt sich die Frage, ob sie in eine Einrichtung kommen, in der das stattfindet. Die Mädchen müssen resozialisiert werden. Dazu gehören auch schulische Maßnahmen. Auf jeden Fall kann man sie nicht sich selbst überlassen.

 

Zur Prävention wäre es auch notwendig, an bestimmten Orten eine Videoüberwachung zu haben. 

Psychiater Helmut Remschmidt auf die Frage, wie solche Taten verhindert werden können.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Kinder, die töten, noch einmal Gewalt anwenden?

Das ist ziemlich selten. Vor allem, wenn man entsprechende Interventionen durchführt. Viele leiden letztendlich selbst darunter. Bei Jugendlichen oder Heranwachsenden kann es eher vorkommen.

Welche Maßnahmen gibt es, um Gewalt zu reduzieren?

Die Erziehung im Elternhaus und in der Schule ist wichtig. Aber auch, dass kein Alkohol oder Drogen konsumiert werden. Kein Waffenbesitz. Zur Prävention wäre es auch notwendig, an bestimmten Orten eine Videoüberwachung zu haben. Das lehnen viele Personen ab, aber es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen durch Videos Taten verhindert oder aufgeklärt worden.  Ich habe Fälle beobachtet, bei denen man durch die Videoaufnahme sehen konnte, wer was gemacht hat. Gerade wenn es Gruppen sind, ist es schwierig zu beurteilen.

Ab wann ist Gewalt bei Kindern besorgniserregend?

Da ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen. Aber wenn Kinder häufig in Raufereien oder Gewalttätigkeiten involviert sind, sollte man dem nachgehen und gucken, was da los ist und was man machen kann. Das A und O ist, genau beobachten, registrieren und dann Hilfe suchen.

Wieso schockiert es so sehr, wenn Kinder oder Jugendliche töten?

Das liegt doch auf der Hand. Das traut man doch einem Kind nicht zu. Wir denken uns, ein Kind ist dazu gar nicht fähig.

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