Die Polizei erschießt Menschen, die Mehrheit schweigt

Veröffentlicht am 4. Oktober 2022 um 15:24

Als die US-Polizei George Floyd tötete, gab es sogar in Deutschland Proteste. Nun sterben hier vier Menschen bei Polizeieinsätzen ­– und nichts geschieht. Das hat Gründe.

Gegen Polizeibeamte aus mehreren Bundesländern wird ermittelt, nachdem bei Einsätzen Menschen starben. Doch große Protestaktionen bleiben bisher aus. Die Soziologin Vanessa E. Thompson und der Philosoph Daniel Loick haben das Buch "Abolitionismus" herausgegeben, das die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei diskutiert. Im Gastbeitrag vergleichen sie die Situation in Deutschland mit der in den USA.

 

 

Innerhalb von sechs Tagen sind im August in Deutschland vier Menschen bei Polizeieinsätzen getötet worden: Am 2. August erschießt ein schwer bewaffnetes Sondereinsatzkommando in Frankfurt am Main den geflüchteten Amin F. aus Somalia in seinem Hotelzimmer, nachdem er Sexarbeiterinnen bedroht hatte. Am 3. August erschießen Beamte in Köln den Straßenmusiker Jouzef Berditchevski, dessen Wohnung zwangsgeräumt werden sollte. Am 7. August stirbt ein 39-jähriger Mann in Oer-Erkenschwick im Krankenhaus, der zuvor in seiner Wohnung randaliert haben soll und während des anschließenden Polizeieinsatzes mit Pfefferspray das Bewusstsein verlor. Am 8. August wird in Dortmund der 16-jährige geflüchtete Senegalese Mohamed Lamine Dramé, der sich in einer psychischen Krise befand und suizidgefährdet war, mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole der Polizei durchlöchert. All diese Fälle sind unterschiedlich. Aber sie haben gemeinsam, dass alle diese Opfer von Polizeigewalt gesellschaftlich marginalisierte Menschen waren: Arme, schwarze Menschen, Migrant:innen und geflüchtete Personen.

Dass ein Mensch durch die Polizei getötet wird, ist nur der Extremfall einer Diskriminierungserfahrung, die für marginalisierte Menschen zum Alltag gehört. Diese Fälle verweisen, worauf zivilgesellschaftliche Organisationen, migrantische und antirassistische Kollektive auch in Deutschland schon lange hinweisen. Die Polizei bedeutet für viele nicht Sicherheit und Schutz, sondern das exakte Gegenteil: Bedrohung, Schikane, Gewalt, auch tödliche Gewalt. Gerade erst rügte der Europarat Deutschland, weil es zu wenig gegen die rassistische Praxis des Racial Profilings unternehme.Die Gewalt dokumentiert auch das Video, das in der vergangenen Woche von einem Polizeieinsatz in Berlin aufgetaucht ist, in der zwei Polizeibeamte aufgrund eines Bagatelldelikts eine syrische Familie in ihrer eigenen Wohnung belästigen und bedrohen. Die Beamten werfen den Familienvater vor den Augen seiner Frau und seiner drei vollkommen verängstigten Kinder brutal zu Boden und drohen ihm mit dem Satz: "Das ist mein Land und du bist hier Gast", die Frau beleidigen sie mit den Worten "Halt die Fresse, ich bring dich ins Gefängnis". Diese Szene ist paradigmatisch dafür, dass Polizeigewalt dem eigenen Leben nicht äußerlich bleibt, man kann sie nicht einfach ablegen oder draußen lassen – sie dringt in den intimsten Privatbereich vor.

Betroffeneninitiativen dokumentieren die langfristigen psychischen sowie physischen Auswirkungen wie Depressionen und Verfolgungsängste solcher traumatisierenden Erlebnisse. Zudem erfahren betroffene Menschen oft gesellschaftliche Desolidarisierung etwa durch mangelnde Unterstützung von Passant:innen und weitere Täter-Opfer-Umkehr bei Gericht, falls sie überhaupt die Mittel haben, sich gegen polizeiliche Gewalt zu wehren. Auch die Strategie, diese Fälle lediglich als Einzelfälle zu deklarieren, ist selbst Teil dieser Gewalt. Die Erfahrungen marginalisierter Gruppen, die schon seit der Entstehung der Polizei unter Kriminalisierung, Bedrohung und Gewalt leiden, werden nicht ernst genommen, ihre Zeugenschaft entwertet. Indem den Opfern von Polizeigewalt signalisiert wird, dass das ihnen widerfahrene Unrecht unerheblich ist, werden sie einmal mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Dies geschieht auch dadurch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft selbst in Fällen drastischer Polizeigewalt häufig intuitiv zunächst mit der polizeilichen Perspektive identifiziert als mit der der Betroffenen. 

2020 gingen nach den Morden an George Floyd in Minneapolis und Breonna Taylor in Louisville in den USA auch in Deutschland aus Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung Zehntausende Menschen auf die Straße. Warum erzeugen ähnliche Fälle keinen gesellschaftlichen Aufschrei, wenn sie in Deutschland passieren und sich die Fälle von tödlicher Polizeigewalt hier ebenfalls häufen? Warum wird das Problem nicht in der Tagesschau thematisiert oder bei Anne Will diskutiert? Warum kommt es nicht zu Massendemonstrationen, Riots und Aktionen des zivilen Ungehorsams? Warum kennen viele die Namen von Trayvon Martin, Eric Garner und Mike Brown, aber nicht die von Achidi John, Christy Schwundeck, N'deye Mareame Sarr oder Mohamed Dramé?

Ein häufig angeführtes Argument lautet, die Situation in den USA sei einfach viel schlimmer als die in Deutschland – die radikale Polizeikritik der US-amerikanischen Linken lasse sich auf Deutschland daher gar nicht übertragen. Aber tatsächlich dürfte die unterschiedliche Aufmerksamkeit, die Fälle von Polizeigewalt bei uns erhalten, eher etwas mit deutschen Befindlichkeiten zu tun haben als mit den tatsächlichen Differenzen. In Deutschland fehlt marginalisierten Menschen die öffentliche Lobby: Medien bemühen sich in vielen Fällen gar nicht erst darum, bei Fällen von Polizeigewalt zu recherchieren, sondern schreiben zumeist die Meldungen von Polizei und Staatsanwaltschaft ab (mit gravierenden Folgen: In mindestens zwei der Todesfälle im August hat die Polizei zunächst gelogen und musste später ihre Aussagen zum Geschehen korrigieren, in einem Fall soll sie versucht haben, die Löschung eines Handyvideos zu erzwingen). Auch gibt es in Deutschland, anders als in den USA, keine Verstärker im Bereich der Popkultur: Wenn es für Beyoncé und Kendrick Lamar selbstverständlich ist, Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung in den Mainstream zu tragen, kommen die Erfahrungen marginalisierter Gruppen in der deutschen Popkultur nur in Ausnahmen vor.

Auch die sich als sozial und progressiv verstehenden Parteien, von sozialdemokratisch bis links, versagen bei der Organisierung von Solidarität mit den Opfern von Polizeigewalt auf ganzer Linie. Die SPD-Innenministerin Nancy Faeser, von der sich viele ein entschlosseneres Vorgehen gegen Rassismus in den Sicherheitsbehörden erhofft hatten, verteidigte und beschönigte erst vor ein paar Tagen das Vorgehen der Berliner Polizei. Auch die Grünen, denen in den Achtzigerjahren einige wichtige Polizeireformen zu verdanken waren, haben sich zumindest überall dort, wo sie an der Regierung beteiligt sind, inzwischen vollkommen auf das Geschäft der polizeilichen Imagepflege verlegt. Für große Teile der Linkspartei gilt die Beschäftigung mit Polizeigewalt als "Identitätspolitik", die zugunsten sozialpolitischer Forderungen zurückzustellen sei.

Und auch die außerparlamentarische Bewegungslinke nimmt sich des Themas Polizeikritik viel zu schleppend an. So bleibt es weiterhin der unermüdlichen und meist übersehenen Arbeiten kleiner lokaler Solidaritätsinitiativen vorbehalten, polizeiliche Übergriffe zu dokumentieren und zu skandalisieren – zumeist jedoch, ohne dafür eine diskursive Resonanz zu finden. Dabei müsste längst klar sein, dass Polizei und Sicherheitspolitik keine Lösung gesellschaftlicher Problemlagen, sondern wesentliche Techniken zur Kontrolle und Kriminalisierung der Armen darstellen, dies trifft migrantische Menschen und Menschen, die Rassismus erfahren, überproportional, aber nicht ausschließlich.

Die Erfahrung von Polizeigewalt wäre daher ein Moment, über das sich die Perspektiven verschiedener unterdrückter und marginalisierter Gruppen verbinden ließen – Menschen, die von Armut, Zwangsräumung oder Wohnungslosigkeit betroffen sind, Migrant:innen und geflüchtete Personen, Sexarbeitende und Umweltaktivist:innen – eine Verbindung, durch die sich auch über das konkrete Thema hinaus eine neue gesellschaftliche Protestbewegung formieren könnte.

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